Gastbeitrag von Angelika Adensamer
Das Berichten von Strafprozessen erfüllt mehrere wichtige Funktionen. Einerseits gibt es Menschen ein Gefühl dafür, wie in einer Gesellschaft gestraft wird. Erst dadurch, dass Menschen von realen Strafen wissen, kann die Strafdrohung ihre abschreckende Wirkung enfalten. Kritische Berichterstattung kann auch verschiedene gesellschaftliche Probleme, wie z.B. Formen der Kriminalität illustrieren, aber auch mögliche Missstände am Gericht, sei es Klassenjustiz, Unverhältnismäßigkeit zwischen verschiedenen Deliktstypen, oder Rassismus, aufzeigen. Sie zeigt jedenfalls ein wichtiges Sittenbild.
Dem Thema Verbrechen und Kriminalität wird hingegen in keiner Weise Genüge getan, wenn einzelne Fälle nicht in einen gesellschaftlichen Kontext gesetzt werden. Das bedeutet mitzubedenken, vor welchem Hintergrund sie sich abspielen. Dieser kann z.B. von Gewalt in der Familie, Armut, Perspektivenlosigkeit oder fehlenden Arbeitserlaubnissen geprägt sein. Es ist falsch, zu glauben, ein_e Kriminelle_r sei normalerweise ein “schlechter Mensch” mit einem fehlerhaften Charakter oder einer psychischen Störung. Das mag vereinzelt der Fall sein, meistens aber sind die Täter_innen selbst auch Opfer, einerseits persönlich, weil sie selbst Gewalterfahrungen gemacht haben, andererseits sind sie oft auch Opfer von einem System, in dem es ihnen unmöglich gemacht wird, Fuß zu fassen. Aus der Perspektive einer gehobenen, gebildeten Mittelklasse auf verurteilte Menschen pauschal mit Verachtung herabzusehen, bedeutet Entsolidarisierung und stellt eine größere Bedrohung für unsere Gesellschaft dar, als die Kleinkriminalität, die das Gros aller Strafprozesse ausmacht.
Ich möchte aus einem Standard-Artikel von Dezember letzten Jahres als ein Beispiel von vielen bringen, um zu verdeutlichen, wie hier Sozial-Voyeurismus betrieben wird. Ich war zu der Zeit Gerichtspraktikantin am Straflandesgericht und habe den Prozess daher selbst beobachten können. Es ging um vier Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren, die im Aktivspielplatz Rennbahnweg eingebrochen sind, um Sachen mit geringem Wert zu stehlen und den Innenraum zu verunreinigen.
Der Bericht fängt damit an, die Geschehnisse in “Transdanubien” zu situieren, was dem Verfasser zufolge ein “eher, nun ja, raueres Pflaster” sei. Die gewünschte Abgrenzung von vermeintlich “unteren Schichten” im traditionellen Arbeitsbezirk Donaustadt kommt ein bisschen verschämt daher, kann sich aber doch nicht verstecken. Damit wird vor allem klargestellt: wer den Standard liest, ist vermutlich nicht aus Transdanubien, sondern eher solide Mittelschicht, und dass sich diese beiden Dinge “eher, nun ja” ausschließen.
Es folgt eine Anekdote, die in ihrem Stil nur den Zweck haben kann, die angebliche Dummheit eines der jugendlichen Angeklagten bloßstellen zu wollen. In Wirklichkeit erzählt sie aber davon, dass das Gericht ein Ort ist, dessen formalisierte Gepflogenheiten für Jugendliche äußerst schwer zu navigieren sind.
Es geht darum, dass einer der Angeklagten das Körbchen, das man bei der Sicherheitskontrolle für den Inhalt der Hosentaschen bekommt, während man durch den Metalldetektor geht, nicht zurück gegeben, und es während des Prozesses am Schoß hatte. Diese Geschichte zeigt sehr schön, dass Menschen, die mit dem Gericht nicht vertraut sind (insbesondere Jugendliche), über das Verhalten, das dort von ihnen erwartet wird, nicht ausreichend aufgeklärt werden. Ihr Fehlverhalten wird ihnen aber mitunter schlecht angerechnet. Über den Angeklagten mit dem Körbchen wurde während des Gerichtsprozesses gewitzelt, was ich schon an Ort und Stelle äußerst unangebracht fand. Der Standard stimmt mit dem Artikel in das Gelächter ein und lacht einen Jugendlichen aus, der eben nicht gelernt hat, wie man sich bei Gericht benimmt, statt die Arroganz des Gerichtes gegenüber denen, über die es entscheidet, aufzudecken.
Durch den folgenden Dialog (zitiert aus dem besagten Standard-Artikel) wird ein weiterer Angeklagter bloßgestellt:
““Haben Sie das verstanden?“, fragt [die Richterin nach der Entscheiung] den 18-Jährigen, der weiter sein Körbchen festhält. „Ja.“ – „Also, wie viele Stunden müssen Sie arbeiten?“ – „Das habe ich nicht verstanden.“ – „Das habe ich mir gedacht“, sagt [die Richterin], ehe sie es ihm nochmals erklärt.”
Urteil und Beschlüsse werden meistens auf eine Weise und in einer Geschwindigkeit vorgelesen werden, dass es für jemanden, der nicht oft am Gericht ist, tatsächlich schwierig ist, zwischen vielen Paragraphen und Nebenbestimmungen, herauszuhören, was nun das Urteil wirklich beinhaltet. Daher ist die Nachfrage “Haben Sie das verstanden?” rhethorisch gemeint, und die erwartete Antwort lautet: “Nein.” Dass ein Jugendlicher darauf mit “Ja.” antwortet, obwohl er es tatsächlich nicht verstanden hat, zeigt, dass Jugendlichen beigebracht wird, dass es im Zweifelsfall besser ist, nicht zu sagen, wenn man etwas nicht versteht. Das heißt, der Jugendliche sagte, wovon er glaubte, dass es die Richterin hören wollte, so wie man das in den hierarchischen Systemen Schule und Lehre lernt. Am Gericht kann das aber ein Problem sein, denn tatsächlich wissen die wenigsten Jugendlichen, was das Gericht tatsächlich “hören will”. Dass die Richterin ihm in diesem Fall alles noch einmal erklärt hat, ist gut und wichtig. Falls es aber doch dazu kommt, dass Menschen aus dem Gerichtssaal gehen, ohne verstanden zu haben, was über sie entschieden worden ist, ist das keine Lachnummer, sondern ein besorgniserregender Missstand.
Kritische Berichterstattung lebt davon, dass Journalist_innen selbst nachdenken und hinterfragen, was am Gericht passiert und nicht davon, dass sie obrigkeitshörig wiederholen, was der oder die Richter_in sagt. Qualitätsjournalismus muss unser Rechtssystem kritisch betrachten und Kriminalität in einen sozialen Kontext einordnen.