Weiterer Prozess nach Polizeigewalt bei Klimaprotesten 2019

Zuständiges GerichtLandesgericht für Strafsachen Wien
GerichtsformSchöff*innenverfahren
Verhandlungstag25.01.2022
RichterinJulia Matiasch
StaatsanwaltCarina Steindl
BeschuldigterPolizist, der daran beteiligt war den privatbeteiligten Journalisten festzunehmen
VerteidigerThomas Herzka
Privatbeteiligter
(& Zeuge)
Anselm Schindler, Journalist und Aktivist, der am 31.5.2019 die Sitzblockade beobachtete und von deren Räumung berichtete
Privatbeteiligtenvertreter Clemens Lahner
Beweismaterial1 Handyvideo von der Festnahme

Worum es geht

Im konkreten Fall geht es um den Polizeibeamten, der an Schindlers Festnahme am 31.5.2019 beteiligt war. Der Angeklagte war, wie auch seine Kolleg*innen, zur Auflösung der Blockade vor der Wiener Urania an der Kreuzung Stubenring / Franz-Josefs-Kai eingeteilt gewesen. Sie sollten eine Sperrkette bilden, um Sympathisierende und Blockierende voneinander zu trennen und damit den polizeilichen „Aktionsraum“ zu vergrößern. Der freie Journalist und Aktivist Anselm Schindler stand, wie auch andere Personen, auf einem Gehsteig, um die Räumung der Sitzblockade solidarisch zu beobachten und davon zu berichten. Zuvor war der nicht angemeldete Protest auf der Aspernbrücke behördlich aufgelöst worden und die Aktivist*innen wurden einzeln von der Blockade weggetragen. Was dann geschah, wurde bereits mehrmals ausführlich vor Gericht erörtert:

Im Dezember 2019 kam es in diesem Fall zum ersten Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Wien, der Maßnahmenbeschwerde des Betroffenen selbst, wo die gesamte Amtshandlung als rechtswidrig qualifiziert wurde. Die Richterin in diesem Verfahren zeigte schließlich den Polizisten wegen falscher Beweisaussage an. Dieses Verfahren war richtungweisend für die weiteren Ermittlungen gegen die beteiligen Polizisten.

Auch das zweite Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ging zu Gunsten von Anselm Schindler aus. Trotz der vorherigen Entscheidung, wonach die Festnahme an sich schon rechtswidrig war, bedurfte es einer Verhandlung, damit die Vorwürfe des „aggressiven Verhaltens“ und des „Nicht-Verlassens einer aufgelösten Versammlung“ gegen Schindler aufgehoben wurden. 

Schließlich kam es am 15. Juni 2021 zu einer Verhandlung gegen den Polizisten, welcher Anselm Schindler verhaftete und vor dem Verwaltungsgericht Wien nach der Anzeige gegen Schindler unter Wahrheitspflicht falsch aussagte. Dieser Polizist wurde, mittlerweile rechtskräftig, zu 12 Monaten Haft bedingt auf 3 Jahre Probezeit verurteilt.

Am 18. Oktober 2021 fand die Verhandlung gegen jenen Polizisten statt, welcher den Polizeibus lenkte, unter dem Anselm Schindler im Zuge der rechtswidrigen Verhaftung zu liegen kam. Der Polizist fuhr mit dem Wagen an, während der festgenommene Schindler mit seinem Kopf darunter lag. Gerade diese Bilder waren Anstoß einer großen öffentlichen Empörung. Der Angeklagte wurde in erster Instanz schuldig gesprochen und zu 50 Tagessätzen à EUR 45,- verurteilt – also insgesamt EUR 2.250,- Strafe. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, da der Angeklagte Rechtsmittel einlegte. Es ist mit einer Berufungsverhandlung zu rechnen.

Prozessverlauf

Nach über zweieinhalb Jahren stand somit der dritte an der rechtswidrigen Verhaftung beteiligte Polizist vor einem Schöff*innengericht. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft Wien lautete falsche Beweisaussage und Amtsmissbrauch wegen der zu Unrecht erfolgten Festnahme. Konkret ging es um die Frage, inwieweit sein Verhalten während des Einsatzes und bei seinen Aussagen vor dem Verwaltungsgericht vorsätzlich und missbräuchlich erfolgten. In ihrem Eröffnungsplädoyer betonte die Staatsanwältin, dass es insbesondere auch um eine Lüge – also die falsche Aussage vor Gericht – gehe. Sie sei überzeugt, dass Straftäter streng zu verfolgen seien, auch wenn es sich dabei um Beamte handle

Von Beginn der Verhandlung an bekannte sich der angeklagte Polizist schuldig und betonte, dass es sich dabei um ein reumütiges Geständnis handle. „Es ist nicht verboten, durch Zeitablauf klüger zu werden,“ stellte sein Verteidiger fest. Genau das wäre bei seinem Mandanten passiert. Er habe eingesehen, dass diese Art von Amtshandlung „schlichtweg nicht geht“. Heute würde der Angeklagte nicht mehr so handeln wie am 31.5.2019. Zum Vorwurf der falschen Aussage vor dem Verwaltungsgericht Wien betonte der Polizist, dass er an der Anzeige gegen Schindler nicht beteiligt gewesen wäre, sondern lediglich vor dem Gericht der Anzeige entsprechend ausgesagt hätte, da er davon ausging, dass sein Kollege „schon rechtens“ gehandelt hätte. Dabei sei ihm jedoch bewusst gewesen, dass er teilweise falsch aussagte – trotz Belehrung zur Wahrheitspflicht durch den Richter und Konfrontation mit dem Beweisvideo. 

Auf die Fragen seines Verteidigers und der Ersatzschöffin erklärte der Angeklagte, dass es sich bei dem Einsatz im Mai 2019 um seine erste größere Demonstration gehandelt habe. Er sprach von „Reizüberflutung“ und großer Anstrengung, da er zuvor auch die Demonstration von Fridays For Future über den gesamten Ring begleitet hätte und schon 7-8 Stunden im Dienst gewesen sei. Auch handelte es sich bei der Festnahme um die erste Festnahme, die der Beschuldigte im Zusammenhang mit einer Demo durchgeführt hatte. 

Der bereits im Juni 2021 verurteilte Polizist, welcher federführend an der Festnahme Schindlers beteiligt war, erschien trotz Ladung nicht. Da bereits zahlreiche Protokolle der Aussagen von anderen Polizist*innen und Zeug*innen im Akt zu finden waren, verzichtete die Richterin auf weitere Beweisaufnahmen und zeigte lediglich ein Video von der Festnahme.

In seinem Schlussplädoyer betonte der Privatbeteiligtenvertreter abermals, dass es ohne der Videos wohl kaum zu den Verhandlungen gegen die Polizisten gekommen wäre. Es sei wichtig, der Polizei auf die Finger zu schauen, denn meistens stehe Wort gegen Wort und der Polizei würde immer geglaubt werden. Nur aufgrund des Videomaterials gäbe es nun die Schuldbekennung. Es ginge nicht nur um den Angeklagten als Einzelperson, sondern um die Polizei an sich. Es sei ein Skandal, dass der Angeklagte  vor dem Verwaltungsgericht falsch ausgesagt hatte, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits das Video gesehen hatte und es besser wusste. Die Staatsanwältin führte in ihrem Plädoyer aus, dass der Rechtsstaat wachsam sein müsse, wenn seine Organe wissentlich und widerholt den Rechtsstaat umgehen. Hingegen forderte der Verteidiger eine möglichst geringe Strafe, da in seinen Augen die Milderungsgründe überwiegen würden. Als Argument wird nicht nur die Länge des Verfahrens genannt, sondern auch die seitherige unbeanstandete Dienstführung des Beschuldigten. Dabei setzt der Verteidiger jene Blockade am 31.5.2019 mit den Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen gleich, da es in beiden Fällen zu „zivilem Ungehorsam“ und Straßenblockaden käme.

Urteil

Im Schöff*innenverfahren entscheiden zwei juristische Lai*innen, Schöff*innen genannt, gemeinsam mit einer Berufsrichterin über Schuld und Unschuld des Angeklagten sowie über verhängte Strafhöhe. Diese einigten sich nach einer kurzen Beratungszeit auf das Urteil: Der Angeklagte wurde zu 10 Monaten Haft verurteilt. Ins Gefängnis muss er allerdings nicht: seine Strafe wird auf drei Jahre Bewährung ausgesetzt. Das Urteil ist rechtskräftig, da sowohl die Staatsanwältin als auch der Beschuldigte das Urteil noch im Gerichtssaal annahmen.

Als besonders erschwerend hob die Richterin hervor, dass der Polizist sowohl eines Verbrechens (Missbrauch der Amtsgewalt mit einer Strafdrohung über drei Jahren), als auch eines Vergehens (Falschaussage) beschuldigt wurde. Deshalb seien an sich auch 12 Monate Freiheitsstrafe gerechtfertigt. Dennoch betonte die Richterin, dass auch einige Milderungsgründe vorlägen (reumütiges Geständignis, der bisherige ordentliche Lebenswandel des Angeklagte, sowie auch die Länge des Verfahrens). Somit kam der Schöff*innensenat auf ein Strafmaß von 10 Monaten.

Die vorsitzende Richterin machte deutlich, dass dieses Urteil auch eine generalpräventive Wirkung auf andere Beamt*innen haben sollte. Außerdem wurde der Privatbeteiligtenanspruch von 500€ voll anerkannt. Dies sei laut der Vertreter des Privatbeteiligten nicht nur ein symbolischer Betrag, sondern solle auch die durch die Beschwerde gegen die Verwaltungsstrafanzeige angefallenen Kosten decken.

Fazit

Damit handelt es sich um die dritte Verurteilung in Zusammenhang mit der rechtswidrigen Festnahme von Anselm Schindler. Erneut liegt das Strafmaß unter 12 Monaten, somit bleiben die beteiligten Polizisten weiterhin im Dienst. Auffällig ist, dass wiederholt die Verantwortung auf eine „chaotische Situation“ abgewälzt wurde, obwohl Einsätze bei Demonstrationen und das Auflösen von Sitzblockaden zum Berufsalltag gehören und Teil der Ausbildung sind. Der Vergleich von „zivilem Widerstand“ bei Klimademos mit heutigen Corona-Demos durch den Verteidiger kann nur als Versuch gewertet werden, das Fehlverhalten der Polizei durch „Überforderung“ zu legitimieren. Somit wird die rechtswidrige Festnahme und Polizeigewalt gegen Schindler mit dem Nicht-Eingreifen der Polizei bei Anti-Corona-Maßnahmen-Demos gleichgesetzt.

Dass dem Angeklagten geglaubt wurde, er würde in Zukunft nachfragen, bevor er sich an einer Amtshandlung beteiligen würde, zeigt, dass im Gerichtssaal durchaus Lebenserfahrung zur Realität von Einsätzen bei Demonstrationen fehlte. Der sogenannte Corpsgeist, wonach Beamt*innen ohne zu Zögern die Befehle der Vorgesetzen umsetzen, auch wenn diese unrechtmäßig sind, und sich gegenseitig decken, zeigte sich nicht zuletzt an seiner Begründung für das Lügen im Maßnahmenbeschwerdeverfahren. Er habe für seinen Kollegen ausgesagt, auch nachdem ihm die belastenden Videos vorgehalten wurden.

Dass Polizist*innen angeklagt werden bleibt eine Seltenheit, wie auch die ALES Studie über den „Umgang mit Misshandlungsvorwürfen gegen Exekutivbeamte“ belegt: Nur in 7 von 1500 untersuchten Misshandlungsvorwürfen kam es zur Anklage. Im Fall von Schindler ist die Anklage wohl auf die zahlreichen Beobachter*innen und Videoaufnahmen, sowie der breiten medialen Aufmerksamkeit und vorangegangenen gerichtlichen Entscheidungen zurückzuführen.

Laut Landespolizeidirektion Wien gab es im Jahr 2021 sieben Verurteilungen zwischen 8 und 12 Monaten wegen Falschaussage, Amtsmissbrauch und Körperverletzung. Die geringe Zahl an Verurteilungen zeigt auf, dass Polizeigewalt viel zu selten gerichtlich geahndet wird. Oft sind es Videoaufnahmen, die zu einer Verurteilung führen, da den Polizist*innen meist vor Gericht geglaubt wird – selbst wenn sie lügen. Auch im vorliegenden Fall wurde der Maßnahmenbeschwerde Schindlers nur stattgegeben, weil zahlreiche Videos von der rechtswidrigen Verhaftung vorlagen. 

Erneut wurde deutlich, wie dringend es eine unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstelle für Betroffene von Polizeigewalt braucht. So kam auch Amnesty International Österreich in ihrem vor Kurzem veröffentlichten Bericht zum Polizeieinsatz am 1. Mai 2021 u.a. zu dem Schluss: 

Im Zusammenhang mit der Polizeigewalt am 1. Mai 2021 sei auch auf die Berichte vom Rechtsinfokollektiv, dem Antirepressionsbüro und der ersten Maßnahmenbeschwerde verwiesen.

Rechtslage

§ 302 StGB Mißbrauch der Amtsgewalt

(1) Ein Beamter, der mit dem Vorsatz, dadurch einen anderen an seinen Rechten zu schädigen, seine Befugnis, im Namen des Bundes, eines Landes, eines Gemeindeverbandes, einer Gemeinde oder einer anderen Person des öffentlichen Rechtes als deren Organ in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen, wissentlich mißbraucht, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.

§ 288 StGB Falsche Beweisaussage

(1) Wer vor Gericht als Zeuge oder, soweit er nicht zugleich Partei ist, als Auskunftsperson bei seiner förmlichen Vernehmung zur Sache falsch aussagt oder als Sachverständiger einen falschen Befund oder ein falsches Gutachten erstattet, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.

§ 27 StGB Amtsverlust und andere Rechtsfolgen der Verurteilung

(1) Mit der Verurteilung durch ein inländisches Gericht wegen einer oder mehrerer mit Vorsatz begangener strafbarer Handlungen zu einer Freiheitsstrafe ist bei einem Beamten der Verlust des Amtes verbunden, wenn
1. die verhängte Freiheitsstrafe ein Jahr übersteigt,
2. die nicht bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe sechs Monate übersteigt oder
3. die Verurteilung auch oder ausschließlich wegen des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses (§ 212 StGB) erfolgt ist.

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