Seit Ende August 2021 wurde die Baustelle der geplanten Stadtstraße in der Lobau an mehreren Punkten besetzt. So sollte der Bau verhindert werden und auf den Einfluss von Bodenversiegelung und Straßenbau auf die Klimakrise aufmerksam gemacht werden. Den Eigentümerinnnen der Grundstücke – der Stadt Wien und der ASFINAG – waren die Besetzungen erwartbarerweise von Anfang an ein Dorn im Auge.
Daher ließ die Stadt die Besetzungen juristisch prüfen. Im Dezember 2021 wurden schließlich Klagsdrohungen ausgesendet. Diese erreichten nicht nur Aktivist*innen, wlinkelche sich aktiv an der Besetzung beteiligten, sondern auch Sympathisantinnen, welche zuvor nie auch nur einen Fuß in die Camps entlang der Baustelle gesetzt hatten.
Zwar wurden mittlerweile die Klagedrohungen gegen die jüngeren Aktivist*innen zurückgezogen, doch auch nach der erfolgten Räumung der Besetzungen bleiben die restlichen Drohungen nach wie vor aufrecht. Bei den Besetzungen handelt es sich um unangemeldete Versammlungen. Jene Besetzung in der sogenannten „Wüste“ neben der U-Bahnstation Hausfeldstraße wurde schließlich am 9. Dezember 2021 von der Polizei für aufgelöst erklärt. Somit stand stets die Gefahr einer Räumung im Raum. Am 1. Februar 2022, in den frühen Morgenstunden, kam es schließlich zur Räumung. Damit dies auf einem Privatgrundstück möglich ist, muss die Eigentümerin des Grundstücks die Polizei um eine Räumung ersuchen. Die Polizei Wien kam dieser Bitte der Stadt Wien mittels immensem Polizeiaufgebot nach. Es kam auch zu mehren Fällen von Polizeigewalt.
Nachdem das Camp erstmals geräumt wurde, probierten die Besetzerinnen mehrmals wieder auf die Baustelle zu gelangen. Die Polizei versuchte dies nicht nur mit einem aufgestellten Bauzaun sondern auch mit massivem Einsatz von Pfefferspray zu verhindern. Selbst eine Drohne kam zum Einsatz. Zwischenzeitlich wurden Bäumen und Bagger in der Nähe besetzt. Es kam im Laufe des Tagen zu ca. 50 Festnahmen, fünf davon wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ein Großteil der an dem Tag festgenommen Personen kam erst nach 24 Stunden wieder frei. Die Wiener Linien unterstützten das repressive Vorgehen, indem sie die Anfahrt für solidarische Menschen erschwerte, da die öffentlichen Verkehrsmittel wie U-Bahn und Straßenbahn nicht bis zur besetzten Baustelle fuhren.
Die Räumung am 01.02.2022 wird nun erstmals vor Gericht behandelt. Ein junger Mann soll versucht haben, Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten. Konkret wird ihm vorgeworfen, sich bei dem Versuch wieder auf die Baustelle zu gelangen gegen seine Verhaftung gewehrt zu haben. Dabei soll er versucht haben, einen Polizisten durch Handballenstöße zu schlagen. Einziges Beweismittel ist ein nach dem Einsatz angefertigter Amtsvermerk des beteiligten Polizisten.
Dem Angeklagten und seiner Verteidigerin Nora Pentz ist es gelungen, Videomaterial vom Vorfall und der anschließenden Festnahme aufzutreiben und dieses dem Gericht vor dem Verfahren zukommen zu lassen. Der Angeklagte schilderte die Situation wie folgt: er hätte sich spontan dazu entschlossen gehabt, zur stattfindenden Räumung zu fahren. Er beobachtete zu Beginn wie Aktivist*innen Bäume besetzten und näherte sich anschließend dem mit Bauzäunen abgesperrten Bereich, um stattfindende Festnahmen zu beobachten. Als Zeichen des Protestes rüttelte er kurz am Zaun. Nach kurzer Zeit wurde er von hinten von einem Polizisten in den Schwitzkasten genommen und zu Boden gebracht. Widerstand leistete er zu keiner Zeit, das wäre ihm gar nicht möglich gewesen. Seine Hände nutze er ausschließlich, um einen möglichen Sturz auf den Boden abzufangen und um anschließend seine verrutschte Maske wieder zu richten.
Wie auch auf mehreren Videos ersichtlich wurde, gab es die ihm angelasteten Stöße jedoch nicht. Dies musste schließlich auch der erste Zeuge, der Polizist, welcher den Amtsvermerk angefertigt hatte, im Zuge seiner Befragung zugeben. Er selbst sei sich nicht mehr sicher, ob der Angeklagte wirklich versucht hatte, ihn zu stoßen.
Wortgleich der Presseaussendung der LPD Wien sprach der Zeuge von einer „dynamischen Situation“ bei der Räumung, wodurch es ihm nicht möglich gewesen wäre, eine saubere Einsatztechnik anzuwenden. Dies betonte er in Bezug auf das rabiate Zubodenbringen des Angeklagten. Auch der Polizist, welcher den Angeklagten festnahm hatte keinerlei Stöße gesehen. Er entschuldigte sich außerdem für das Aufsperren der Handfesseln, welches nicht wie üblich mit dem passenden Schlüssel passierte, sondern mit einer Flex vonstatten ging.
Schließlich sah sich auch die Staatsanwältin dazu veranlasst einzugestehen, dass es wohl zu keinerlei Stößen gekommen sei und sprach sich ebenfalls für einen Freispruch aus. Die Verteidigerin betonte in ihren Schlussworten, dass von den Vorwürfen der Staatsanwält*innenschaft nichts übrig geblieben sei und es für sie nicht nachvollziehbar wäre, wie es überhaupt zu einer Anklage gegen ihren Mandanten gekommen sei.
In seinen Schlussworten betonte der Angeklagte, dass es im Zuge seiner Festnahme auch zu Polizeigewalt gekommen sei als man ihm die Handfesseln abnahm. Durch das Aufflexen dieser erlitt der Festgenommene Verbrennungen an den Handgelenken. Zudem betonte der Angeklagte, dass er es absurd findet, dass Brandanschläge und andere Vorfälle nicht aufgeklärt würden, er aber nun vor Gericht stehe.
Die Richterin sprach den Angeklagten frei. Das Urteil ist rechtskräftig, das heißt es sind keine Rechtsmittel mehr dagegen möglich. In ihrer kurzen Urteilsbegründung stellte die Richterin fest, dass in den Videos vom Vorfall eindeutig keine (versuchten) Stöße zu sehen seien. Weiters hätten auch die Zeugen keine Stöße gesehen, beziehungsweise seien sich diesbezüglich nicht mehr sicher. Sie sei davon überzeugt, dass es zu keinerlei Stöße gekommen sei.
Das Vorgehen der Polizei und Staatsanwaltschaft zeigt nicht nur auf, dass erneut Protest kriminalisiert wurde, sondern auch, welchen Schwerpunkt Polizei und Staatsanwaltschaft in ihrer Arbeit setzen. Nachdem die – mittlerweile ebenfalls geräumte – Besetzung in der Hirschstettner Straße schon einem Brandanschlag und Nazischmierereien zum Opfer gefallen ist, gibt es bis heute unzureichende Ermittlungen zu diesen Vorfällen. Doch um Aktivist*innen vor Gericht zu stellen gibt es offenbar ausreichend Ressourcen. Diese Doppelstandards kritisierte auch der Angeklagte in seinen Schlussworten. Denn der erfolgte Freispruch macht die Kosten für eine juristische Vertretung und den Stress einer drohenden Verurteilung nicht ungeschehen.
Offen bleibt die Frage wieso es bei so wenig Belastbarem und ohne weitere Ermittlungen überhaupt zur Anklage kam? Dennoch ist festzuhalten, dass wieder einmal Videos dazu getragen haben dass es hier zu einem Freispruch kam. Polizisti*nnen wird vor Gericht eher geglaubt als Aktivist*innen und schon in der Vergangenheit waren Videos ausschlaggebende Beweismittel, Fehlverhalten oder gar Polizeigewalt zu beweisen bzw. deren Aussagen zu entkräften. Deshalb ist es wichtig Polizeieinsätze zu beobachten und zu dokumentieren, wie es auch der Angeklagte getan hat.