3. Maßnahmenbeschwerde nach Klimaprotest

BeschwerdeführerJulian Sommer (Name geändert), der sich am 31.5.2019 spontan an der Sitzblockade für Klimagerechtigkeit in Wien beteiligte
BeschwerdeführervertreterinDr.in Alexia Stuefer
Zuständiges GerichtLandesverwaltungsgericht Wien
Verhandlungstage18. und 19.12.2019
RichterinMag. Nussgruber
BehördenvertreterinMag.a Anneliese Filz
Beschwerdegründeunverhältnismäßige und rechtswidrige Körperkraftanwendung, rechtswidrige Dokumentation des Vorfalles im Amtsvermerk
Wichtige Zeug*innenam Wegtragen und der später erfolgten Festnahme beteiligte Polizisten, Einsatztrainer der LPD Wien
BeweismaterialVideoaufnahmen von nicht beteiligten Beobachter*innen

Nach zwei gewonnenen Maßnahmenbeschwerden gegen das Vorgehen der Polizei beim Klimaprotest am 31.5.2019 verhandelte das Verwaltungsgericht Wien Mitte Dezember einen weiteren Fall von Polizeigewalt. Beschwerdeführer des Verfahrens war Julian Sommer (Name geändert), dessen Gerichtsprozess einen tieferen Einblick in die Strukturen der Polizei gewährte. Zentral waren neben dem konkret in Beschwerde gezogenen unverhältnismäßigen Polizeiverhalten, durch das der Betroffene verletzt und erniedrigt wurde, auch die angewandten Einsatztechniken und das Vorgehen der Behörde bei Misshandlungsvorwürfen. Nach einem zweitägigen Verfahren stufte das Verwaltungsgericht Wien einen Teil der in Beschwerde gezogenen Amtshandlung als rechtswidrig ein, wobei auch die Richtlinienbeschwerde für den Beschwerdeführer entschieden werden konnte.

„Kein Gesetz erlaubt ein derartiges Verhalten. (…) Eigentlich gehen diese Rechtsverletzungen über eine einfachgesetzliche Verletzung hinaus. In meinen Augen ist das eine Verletzung der Art 3 EMRK. Mehrmals. Das Verhalten war demütigend und erniedrigend.“

Anwältin des Beschwerdeführers, 19.12.2019

Was passiert ist

Julian Sommer beteiligte sich spontan an einer Sitzblockade für Klimagerechtigkeit, die vor der Urania in Wien stattfand. Geplant war dies von ihm nicht, er empfand es lediglich als unterstützenswert sich mit einer Aktion zu solidarisieren, die die zunehmende Klimakrise deutlich sicht- und hörbar macht. Nach Auflösung der Spontanversammlung wurde auch er von mehreren Polizisten weggetragen. Dabei kamen Schmerzgriffen zum Einsatz, die seine Handgelenke stark überdehnten. In einer Aussage vor Gericht bezeichnete ein Beamter diese Griffe schlicht als Transportgriffe.

Kurz vor der Wagenburg, wohin alle Aktivist*innen zu einer späteren Identitätsfeststellung verbracht wurden, fiel einer der Polizisten auf ihn und schlug ihm dabei in den Bereich der Hoden. Auch schilderte der Beschwerdeführer vor Gericht, dass sein Brüllen aufgrund des Schlages unüberhörbar gewesen sein muss. Dieses Detail wurde im später angefertigten Amtsvermerk der Polizei allerdings nicht vermerkt. Als der Beamte wieder aufstand, tastete er an Sommers Körper entlang und drückte mit seiner Faust tief in dessen Kehle. Dass dies mutwillig und mit Absicht geschah, die einer rechtlichen Misshandlung gleichkommt, wurde seitens der Polizei vor Gericht hartnäckig bestritten. Er schrie nach der Dienstnummer des Polizisten, wurde aber ignoriert. Jener Beamte verließ daraufhin fast fluchtartig das Geschehen und verschwand hinter einer Reihe von anderen Polizist*innen. Stattdessen kam ein weiterer Beamter hinzu der Sommer vor Gericht als „Widerständler“ (eine Person die eine Handlung nach § 269 StGB gesetzt hat) bezeichnete.

Dann ging alles ganz schnell, Sommer wurde gepackt und mit dem Gesicht zu Boden gedrückt. Um sich zu schützen drückte er seine Arme an seinen Bauch. In dieser Position wurde er am Boden fixiert, sein Kopf an den Gehsteig gedrückt und bekam eine Serie von neun Schlägen in den Nieren- bzw. Lendenbereich versetzt, damit ihm anschließend die Hände hinter seinem Rücken mit Handschellen gefesselt werden konnten. Als Sommer wieder aufstand wurde er von einem Beamten als Arschloch beschimpft und seine Festnahme ausgesprochen.

Der Schock der Erlebnisse zog nachhaltige traumatische Folgen nach sich, welche zwar kein Bestandteil Sommers Beschwerde waren, doch ist die Auseinandersetzung damit unumgänglich, ist das Trauma doch das womit ein*e Betroffene*r noch Jahre später noch zu kämpfen hat. Julian Sommer ist nach wie vor in psychotherapeutischer Behandlung.  

Das Erkenntnis: teilweise rechtswidrig

„Bei einer vorzunehmenden Gesamtbetrachtung (…) und dem Umstand dass der Beschwerdeführer Manifestant einer politischen Demonstration zum Thema des Klimaschutzes war, kann daher festgestellt werden, dass die Verpflichtung der Achtung der Menschenwürde verletzt wurde, weil diese Verhaltensweise durchaus objektiv geeignet war den Eindruck der Voreingenommenheit zu erwecken oder das objektiveErscheinungsbild einer Diskriminierung aufgrund seiner politischen Auffassung, nämlich der Notwendigkeit des Klimaschutzes, entstehen zu lassen. (…)

Bei dieser exzessiven Gewaltanwendung, für deren Notwendigkeit in diesem Ausmaß keine angemessene Erklärung durch die belangte Behörde erfolgte, lag ein Verstoß wegen erniedrigender Behandlung nach Art. 3 EMRK vor und war daher spruchgemäß zu entscheiden.“ 

Entscheidung Verwaltungsgericht 07.10.2020

In den Worten eines Polizeieinsatztrainers, der vor Gericht aussagte: „Würde einer meiner Polizeitrainer Fauststöße auf eine am Boden liegende Personen machen, würde ich ihn sofort als Trainer ablehnen. Wenn ich das höre, wird mir übel.“

Die Szene der mehrfachen Schläge ging lautstark durch die Medienlandschaft und sorgte für große Empörung. Eine parlamentarische Anfrage der NEOS kam vor Gericht zur Sprache in der ein Einsatztrainer der Polizei zitiert wird: „Der Mann war bereits am Boden fixiert. Es ging keine Gefahr mehr von ihm aus. Wuchtige Schläge sind sicher keine gängige Methode der Polizei in solchen Situationen. Nur wenn er eine Waffe besitzt und sich diese nicht abnehmen lässt“.

Ähnlich sieht das auch das Verwaltungsgericht und erklärt diese Vorgehensweise für rechtswidrig. Die Anwendung dieser Form der Gewalt entbehrte jeglicher Grundlage. Ein solches Ausmaß von polizeilicher Zwangsgewalt in der Öffentlichkeit wäre nicht nur schon sowieso exzessiv, unter diesen Umständen, dass Sommer bereits am Boden von mehreren Beamten fixiert war und die Schläge zudem in die empfindliche Körperregion der Nieren passierte, wäre zusätzlich demütigend.

Zu keinem Zeitpunkt wurde Sommer die Anwendung von Gewalt bzw. eine Festnahme angekündigt und angedroht, was aber in einem korrekten Ablauf polizeilichen Handelns zwingend vorgesehen ist. Die Aussagen der Polizisten dazu vor Gericht gingen in die entgegengesetzte Richtung, sie berufen sich darauf die Amtshandlung nach Vorschrift gehandhabt zu haben.  

Der Teil der Beschwerde gegen die Polizeibehörde, der vom Verwaltungsgericht nicht als rechtswidrig eingestuft wird ist der Fall des Polizisten, dessen anschließender Schlag in die Hoden des Beschwerdeführers und der Faustdruck in die Kehle. Die Anwältin Sommers sagte dazu, als diese Videosequenz in Zeitlupe vor Gericht abgespielt wird: „Es ist deutlich zu sehen, dass die Fallführung gezielt und nicht unwillkürlich erfolgt ist, und somit auch die Armführung überlegt ist. Das belangte Organ setzt seinen Körper als Waffe ein. Im übertragenen Sinne als Waffe. Es handelt sich um keinen versehentlichen Sturz. Auf dem Video ist deutlich zu erkennen dass die beiden Beine des BF aufgrund der Körperspannung gezielt angespannt sind.“ Die zuständige Richterin geht in ihrer Entscheidung jedoch davon aus, dass es sich in dieser Situation um keine gezielte Körperkraftanwendung gehandelt habe, bzw. war es dem Beschwerdeführer nicht möglich ausreichende Beweise dafür vorzulegen.

Mangelnde Fehlerkultur in der Polizei

Wie meist in diesen Fällen, wurde behauptet der Beschwerdeführer hätte sich aggressiv verhalten, hätte noch am Boden fixiert und am Bauch liegend „wild nach den Beamten getreten, ausschlagend in alle Richtungen“ und die Gewaltanwendung wäre deshalb notwendig gewesen – um sich selbst und andere zu schützen. Dies wiederum ist auf keinem der vorhandenen Videos zu erkennen. Es bestätigt lediglich die Haltung, dass Demonstrant*innen all zu oft als „Feinde“ eingestuft werden. Analog dazu werden Wörter wie „Sympathisant“ benutzt, um jegliche Beteiligte zu verunglimpfen. Ein Beamter: „Der Kollege hat versucht diesen Widerstand (des Beschwerdeführers) mit den Schlägen in den Griff zu kriegen, diese Spannung zu brechen, die Hände frei zu kriegen und die Geschichte zu beenden.“

Die Behauptungen, dass Sommers gewaltbereites Verhalten der Ausgangspunkt für die Gewaltanwendung gewesen wären, wie im Amtsvermerk notiert, und die diesbezügliche Rechtfertigung der Polizisten sieht auch das Gericht in seinem Erkenntnis als nicht glaubhaft und nicht nachvollziehbar.

„(…) Es ist festzustellen, dass die für das Einschreiten maßgeblichen Umstände tatsachenwidrig festgehalten wurden, sodass dadurch ein anderes Bild der Ereignisse erzeugt wurde (…).“

Entscheidung Verwaltungsgericht 07.10.2020

Die diesbezüglich gewonnene Richtlinienbeschwerde zielt weiters auf den Verhaltenskodex der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ab. Dieser legt Befugnisse bei der Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt der Polizist*innen fest. Das Gericht sagt, die Polizei hätte sich diskriminierend und vorverurteilend gegenüber Sommer verhalten, die Gewaltanwendung wäre sowieso exzessiv und hinzu noch gegen die Menschenwürde gewesen.

Einsatztechniken

Die Befragung vor Gericht bestand mitunter darin, wieso es überhaupt zu der rechtswidrigen Gewaltanwendung der Beamten gekommen war. Da die Beamten Sommers Arme hinter seinem Rücken fesseln wollten, versuchten sie deren habhaft zu werden. Er hatte sie zu diesem Zeitpunkt vor seinem Bauch verschränkt. Was also tun?  

Wenn die Arme nicht mit Kraft unter dem Körper hervorgezogen werden können, gibt es nur die Möglichkeit der Technik des Beinhebels, wie ein vor Gericht geladener Einsatztrainer erklärt. „Vorgesehen ist der Beinhebel bei einer am Boden liegenden Person, die in den Richtlinien für das Einsatztraining genannt wird. Der Beinhebel ist eine sehr komplexe Technik und es ist die einzige Technik die vom BMI zum Training freigegeben wurde um eine derartige Situation zu lösen. Ich habe die Vorgaben, ausschließlich diese Technik dafür herzuzeigen. Meine persönliche Meinung dazu ist, dass sie in einer Stresssituation äußerst schwierig auszuführen ist.“

Es gäbe auch andere sehr brauchbare Techniken, aber die dürften die Trainer gemäß den Vorgaben des BMIs nicht herzeigen und lehren. Damit sind die Beamten in ihrer Durchführung äußerst eingeschränkt. Da Schulungen aber nur 3-4 Mal pro Jahr stattfinden in denen solche Techniken gelehrt werden, brächten einfache Beamte sie meistens nicht zum Einsatz. Wäre ein Beamter also nicht außerordentlich sportlich und kräftig, wäre er in der Situation ziemlich allein gelassen. Dazu einer der beteiligten Beamten: „Ich würde ihm das Bein ausrenken weshalb ich diese Technik nicht heranziehen würde.“

Die Schulungen beschränken sich auf ein Ausmaß von 21 Stunden pro Jahr, die dabei sämtliche Fachbereiche beinhalten. Nach Einschätzungen des befragten Einsatztrainers wäre das Training also aus Mangel an Personal viel zu dünn und müsste dringend ausgeweitet werden. „Der Begriff der Nierengegend wird im Training nie erwähnt. Es gibt die Technik des Fauststoßes. Zum Beispiel gibt es den geraden vorderen Fauststoß. Diese Technik wird etwa zur Verteidigung eines Angriffs herangezogen außerdem zur Distanzgewinnung zwischen einem Angreifer und sich selbst. Voraussetzung ist ein massiver drohender Angriff. Bei einer Person, die bereits am Boden liegt kommt der gerade Fauststoß kategorisch nicht in Betracht. Diese Einsatztechnik würde am Sinn und Zweck vorbei gehen.“ Der Bereich der Weichteile, der Kehle und des Gesichts sind nach den Richtlinien für einen Fauststoß ein absolutes Tabu. 

An diesem Punkt könnte man über Techniken der Deeskalation nachdenken, die in anderen Kontexten in Aggressionstrainings gelehrt werden. Eine Unterbrechung der Maßnahme wäre eine Möglichkeit gewesen um zu deeskalieren, zumal in diesem Moment 5 Beamte mit dem BF beschäftigt waren und Fluchtgefahr sehr unwahrscheinlich schien. Ein Abbruch der Situation kam für die beteiligten Polizisten, da waren sie sich auch vor Gericht einig, nicht in Betracht. Daran war auch die Richterin sehr interessiert. Dies wäre aber nach den Aussagen des Einsatztrainers nicht vorgesehen und würde deshalb auch nicht geübt.    

Es scheint, dass im Einsatztraining der Polizei weniger in Richtung einer gewaltfreien Konfliktlösung gedacht würde, stattdessen mehr in Richtung einer gewaltanwendenden Offensive. In all diesen Details offenbart die mündliche Verhandlung, wie sehr solche Vorfälle wie die Sommers nicht nur auf einen einzelnen Fehltritt zurück zu führen sind, sondern dass die Problematik viel tiefer gelagert ist – nämlich in der gesamten Struktur des Polizeiapparats.

Videobeweise

Die endgültige Entscheidung des Gerichts stützte sich hauptsächlich auf die vorgelegten Videobeweise. Kein Medium kann einen Geschehensablauf besser festhalten, wiedergeben, „präsent“ machen, als eine zeitgleich erstellte Video- und Audioaufnahme sagte auch die Anwältin des Beschwerdeführers Alexia Stuefer. Die Videos stammten aber ausschließlich von externen Beobachter*innen. Vermutlich wäre das Ergebnis ein ganz anderes gewesen, hätten diese nicht existiert.

Es ist zwar seit einiger Zeit Usus, dass Beweissicherungsteams der Polizei bei solchen Veranstaltungen anwesend sind. Die Kameras fertigen Videos an und speichern diese auf speziell dafür vorgesehenen Computer in der LPD ab. Es wird dazu ein Amtsvermerk angelegt, wann und wo und zu welchem Zweck gefilmt worden ist.

Auch während der Sitzblockade wurde von Seiten der Polizei gefilmt (wobei nicht klar war, ob Sommer darauf zu sehen ist), vor Gericht wurde aber verschleiert ob diese Videos aufzutreiben wären. Lediglich meinte die Behördenvertreterin dazu, dass es langwierig wäre diese zu finden. Das erzeugt das Bild, dass zwar Videokameras zur Überwachung und Beweissicherung von Seiten der Polizei eingesetzt werden, aber letztlich sehr willkürlich und selektiv entschieden wird, welche Videos zugeführt werden und welche nicht.

Um Vorwürfe von Amtsmissbrauch wirksam belegen zu können, bedarf es also einer Gegenüberwachung und externen zivilen Kontrolle um überhaupt ein rechtlich wirksames Mittel zur Selbstermächtigung in der Hand zu haben.

Der Rechtsweg

Oft raten Anwält*innen ihren Mandant*innen davon ab eine Beschwerde oder Anzeige zu erstatten, auch weil es das Phänomen der sogenannten Gegenanzeigen gibt: Die Betroffenen erstatten eine Anzeige oder Beschwerde, die Polizeibeamten stellen eine Anzeige wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Viele Leute gehen deshalb gar nicht den Weg der Beschwerde. Man kann also davon ausgehen, dass sich die meisten Straftaten von Polizist*innen im Dunkelfeld abspielen. Julian Sommer hatte den Mut trotzdem vor Gericht zu gehen. Bei ihm lief es genau wie oben beschrieben: er wehrte sich und bekam deshalb eine strafrechtliche Anzeige – in diesem Fall wird parallel ermittelt.

Wozu dann also eine Maßnahmenbeschwerde? Aus einer gewonnenen Beschwerde entsteht kaum ein Benefit, da weder finanziell ein Ausgleich stattfindet, noch die beteiligten Organe Konsequenzen ziehen müssen. Auch erfolgt keine Entschuldigungshandlung von Seiten der Polizei – ein Anstoß zu offensichtlich notwendigen Veränderungen in der Polizeistruktur ist auch nicht der Fall.

Nach Gesprächen mit Betroffenen kann zumindest festgehalten werden: Maßnahmenbeschwerden bieten eine Möglichkeit zur Handlungsfähigkeit. Dies ist für jemanden, der „Opfer“ einer Gewalttat wurde ein notwendiger Schritt. Denn dieses sich Wehren können gegen Unrecht – auch wenn nur auf dem Papier – ist ein Schritt zur Selbstermächtigung. Weiters bietet eine öffentliche mündliche Verhandlung vor Gericht die Möglichkeit gehört zu werden, auch wenn leider kaum Menschen dies nutzen und zuhören.