Beschwerdeführerin | Studentin, die eine Festnahme dokumentieren wollte |
Beschwerdeführervertreter | Mag. Clemens Lahner |
Zuständiges Gericht | Landesverwaltungsgericht Wien |
Richterin | Mag. Nussgruber |
Behördenvertreterin | Mag.a Caufal |
Wichtige Zeug*innen | an der Festnahme um dem Herunterholen vom Polizeiauto beteiligte Polizisten, Arzt vom AKH, eine Freundin & eine Beobachterin der Vorfälle |
Beweismaterial | Videoaufnahmen von der LPD Wien und einer unbekannten Person, Wortptotokoll und Lichtbilder davon |
Am 01.05.2021 fand anlässlich des Internationalen Arbeiter*innenkampftages eine Demonstration in Wien statt. Unter dem Motto „Kapitalismus ist die Krise! Soziale Kämpfe verbinden!“ marschierten um die 1700 Menschen von Ottakring in die Wiener Innenstadt, wo gegen Nachmittag im Sigmund-Freud-Park die Abschlusskundgebung stattfand Dort kam es dann zu mehreren Fällen von Polizeigewalt, sowie Festnahmen.
Bisher ging es in den gerichtlichen Auseinandersetzungen ausschließlich um Vorwürfe gegen Demonstrant*innen, diese endeten mit Freisprüchen, bzw. einer Diversion. Konsequenzen für das Verhalten der Polizei gab es bisher nicht.
Die hier als Beschwerdeführerin beteiligte Studentin dokumentierte den Demonstrationszug mit ihrer Kamera und traf am Ort der Abschlusskundgebung Freund*innen, mit denen sie im Park zusammensaß, um die geplanten Redebeiträge hören zu können. Als an der Votivkirche ein Transparent entrollt wurde, entschied sie sich auch dieses zu fotografieren und ging in die Richtung der Kirche. Als sie eine Festnahme beobachtete, wollte sie auch diese dokumentieren, was aufgrund des Großaufgebotes der Polizei schwer möglich war. Sie versuchte es zunächst auf den Schultern einer Freundin, entschied sich aber dann dafür auf ein in der Nähe parkenden PKW zu steigen, um einen besseren Überblick zu bekommen und die Festnahme zu dokumentieren. Nachdem sie wenige Momente auf der Motorhaube stand, wurde sie von Polizist*innen aufgefordert, wieder runter zu steigen. Plötzlich wurden ihr von mehreren Polizist*innen die Beine weggerissen und sie landete erst auf der Motorhaube und dann auf dem Boden.
Direkt vor mir wurde eine junge Frau von Polizisten an den Füßen von einem Auto gerissen.
— Karin Stanger (mentale Unterstützerin) (@KarinStanger) 1. Mai 2021
Sie hat nicht falsch gemacht, sie hatte einfach nur eine Kamera dabei.
Die Polizei wollte nicht gefilmt werden.
Sie ist auf Motorhaube und Windschutzscheibe aufgeschlagen!#w0105
Dort kam es dann zu einem Gerangel, Demonstrant*innen versuchten die Fotografin zu sich zu ziehen, die Polizei versuchte ähnliches. Als die Studentin den Verlust ihrer Kamera bemerkte und sie in der Hand der Polizei entdeckte, forderte sie diesen auf, ihr die Kamera wieder auszuhändigen. In weiterer Folge kam es zur Festnahme der Frau, im Rahmen derer sie auch gewaltsam am Boden fixiert wurde. Zur Feststellung ihrer Identität wurde sie anschließend in das Polizeianhaltezentrum (PAZ) verbracht und musste sie sich dort gänzlich entkleiden.
In der zugrundeliegenden Beschwerde richtete sich gegen drei verschiedene Amtshandlungen:
Der erste Verhandlungstag begann damit sich einen Überblick über den Sachverhalt zu verschaffen. Es wurde geklärt, dass die Ermittlungen gegen die Beschwerdeführerin wegen aggressiven Verhaltens und dem Verdacht der Sachbeschädigung am PKW bereits eingestellt wurden, ohne, dass sie jemals als Beschuldigte einvernommen wurde. Außerdem wurde klargestellt, dass nicht nur die Art und Weise der Festnahme, sondern auch die Festnahme an sich angefochten wird, da diese nicht rechtmäßig gewesen sei. Sowohl die belangte Behörde, als auch die Beschwerdeführer legten jeweils ein Video vor, welche sich die zuständige Richterin in der Vorbereitung auf die zweitägige Verhandlung genau durchsah. Sie fertigte des weiteren ein Wortprotokoll und Lichtbilder (= Screenshots) des Polizei-Videos an.
Kurz nachdem das erste Video abgespielt wurde, bat die Beschwerdeführerin den Verhandlungssaal verlassen zu dürfen: „Ich habe es echt versucht, aber die Situation ist zu traumatisierend gewesen.“ Anschließend wurden die beiden Videos und Lichtbilder ausgiebig diskutiert: sie zeigen zwar nicht die Situation auf der Motorhaube, jedoch den weiteren Verlauf der Amtshandlung. Auf dem Video der Beschwerdeführerin ist unter anderem zu sehen, wie sie von Polizist*innen zum Polizeiauto geführt wurde. Strittig ist ein Moment, in dem die beteiligten Polizist*innen von einem Tritt gegen das Auto berichteten und dies als Grundlage für das rabiate zu Boden bringen begriffen. Was man sieht, ist wie ein Polizist das Gleichgewicht zu verlieren scheint. Nachdem die Szene in Zeitlupe abgespielt wurde, erkennt man zuvor einen sogenannten Beinfeger eines Polizisten, auch dieser könnte Auslöser für die Situation gewesen sein.
Anschließend wurde die Beschwerdeführerin angehört und gefragt, warum sie bisher keine Aussage gemacht hätte. Sie entgegnet, dass dies im PAZ nie ein Thema war und sie gleich nach ihrer Entlassung ein Gedächtnisprotokoll anfertigte. Dieses stellt auch die Grundlage ihrer Beschwerde, die sie mit Hilfe ihres Anwalts einbrachte, dar.
Zur Situation auf der Motorhaube befragt, schilderte sie wie schnell sie von Polizist*innen gepackt und heruntergerissen wurde. Es gab keine Zeit von selbst herunter zu steigen oder die Situation zu klären. Sie sprach davon, unter Schock gestanden zu sein, auf die Motorhaube geknallt zu sein und davon, wie sie anschließend Hände an ihrem Körper spürte und Stimmen vernahm, die sich nach ihrem Befinden erkundigten. Als die Studentin wieder am Boden war, wurde sie sowohl von einer Gruppe Demonstrant*innen als auch von den Polizist*innen hin- und hergezerrt, sie fühlte sich wie ein Spielball. Als sie dann plötzlich im Kreis der Polizei stand, habe sie nicht gewusst, was mit ihr geschah. Sie versuchte wieder die Situation zu klären, verlangte die entwendete Kamera zurück, fühlte sich jedoch ignoriert. In Erinnerung blieb ihr die Aussage: „Die hat kan Ausweis dabei, die nehmen wir gleich mit.“ Es passierte alles sehr schnell, da wurde sie auch schon am Genick gepackt, erinnerte sie sich weiter.
„Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum mir da so viel Gewalt entgegengebracht wurde”, fasste die Betroffene die Situation zusammen in der sie erst Richtung Polizeiauto geleitet wurde und danach bäuchlings zu Boden gebracht wurde. Sie bat mehrfach darum aufgerichtet zu werden, da sie Panik hatte und schlecht Luft bekam, sie fühlte sich ausgeliefert. „Ich habe zwei Finger in meinen Nasenlöchern gespürt, mein Kopf wurde nach hinten gezogen, ich habe ganz viele Hände auf mir gespürt. Davon habe ich bis heute Back-Flashes(sic!) und ich träume davon.“ Weiter schilderte sie die Zeit in der Einzelzelle des Arrestantenwagens, wo sie erneut um Hilfe bat, die ihr jedoch verwehrt wurde. Im PAZ angekommen, wurde sie aufgefordert sich komplett zu entkleiden. Auf Nachfrage, ob das wirklich nötig wäre, wurde ihr entgegnet, dass sei ein Standardprozedere. Eine Weigerung verzögere nur den Aufenthalt. Nach der Leibesvisitation erkundigte sich die Beschwerdeführerin, was nun weiter geschehe und wie lange sie hier bleiben müsse. Darauf erhielt sie keine Antwort.
Besonderes Interesse sorgte die Tatsache, dass die Studentin ihren Ausweis zwar nicht im Moment der Festnahme bei sich trug, sich aber bei Freund*innen in der Nähe, in ihrem Rucksack befand. Dieser Umstand ist auch im Polizei-Video zu hören: „Ich habe meine Sachen draußen, im Rucksack“, verliest die Richterin aus ihrer Abschrift, die Reaktion eines Polizisten darauf: „Joah, Pech, das ist jetzt zu spät.“
Als erster Zeuge wurde der Arzt im AKH befragt, von dem auch ein Attest vorliegt. Dort führte er folgenden Verletzungen an: Prellungen im Kopfbereich, linke Hüfte, Nase, linke Schulter, Handgelenke beidseitig, Oberschenkel und ein Hämatom an der rechten Schulter. Er schilderte zudem, dass es, wie auch in diesem Fall, nicht unüblich sei, dass Patient*innen erst Tage später kommen, da Schlafprobleme und psychische Beschwerden oft im Vordergrund stehen. Die Beschwerdeführerin, so der Arzt, habe auf ihn den Eindruck gemacht, von den Geschehnissen stark belastet zu sein.
Als nächstes wurde der Polizist einvernommen, der am 3.5., und somit zwei Tage nach den Geschehnissen, den Amtsvermerk verfasste. Er konnte sich noch daran erinnern, wie die Beschwerdeführerin auf der Motorhaube stand: „Es war ein bisschen viel los an dem Tag.” Er berichtete von erschwerten Arbeitsbedingungen durch das Tragen von Masken, dass Gegenstände geflogen sind und beendete die Schilderung mit der Formulierung: „ein ganz normaler Demotag.“ Wie genau die Studentin von der Motorhaube befördert wurde, konnte er jedoch nicht sagen, dazu fand sich auch nichts im bisherigen Vorbringen der Polizei. Zum Erstkontakt mit der Beschwerdeführerin befragt, gab er an: „Ich hab es sicher auch 1-2 Mal zu ihr gesagt, dass sie runterkommen soll.” Wie genau sie herunterkam, war von zentraler Bedeutung für die Richterin in ihrer Befragung. “Nachdem alle an ihr gezogen haben, sie muss wohl das Gleichgewicht verloren haben, genau kann ich das nicht mehr sagen“, erklärte der beteiligte Polizist. Zur Grund des Festnahme berichtete er, dass man Sachbeschädigungen am Auto nicht ausschließen konnte und wegen ihres angeblich aggressiven Verhaltens, als sie ihre Kamera zurückforderte. Ob er sie aufforderte, dieses Verhalten einzustellen, war ihm nicht mehr in Erinnerung.
Der zweite Polizist hatte die Meldung bezüglich der Körperkraftanwendung verfasst. Er berichtete davon, wie die Beschwerdeführerin von beiden Seiten ergriffen wurde: „Es war eine sehr dynamische Situation.“ Auch sei die Beschwerdeführerin aggressiv und unkooperativ gewesen, wollte ihren Namen nicht nennen und sich der Amtshandlung entziehen. Die Festnahme sei erfolgt, da sie keinen Ausweis dabei hatte. Die Befragung beschäftigte sich anschließend mit der Situation, bevor die Studentin zu Boden gebracht wurde. Der Polizeibeamte schilderte, wie er sie am Kopf und an der Schulter packte, um diese nach hinten zu bewegen. Dem hielt die Richterin ein von ihr angefertigtes Lichtbild entgegen, auf dem zu sehen war, wie seine Hand sie jedoch am Genick packte. Es folgten weitere Screenshots des Polizeivideos, ihm wurde auch die entsprechende Videosequenz in Zeitlupe vorgehalten. Er musste daraufhin zugeben, dass er sich anderes erinnerte und dass das Greifen im Genickbereich keine Einsatztechnik sei. Auch fiel ihm auf, dass er kurz darauf einen sogenannten „Beinfeger“ also ein Art „Beinstellen“ angewendet hat, das war ihm ebenfalls nicht mehr bewusst und fand sich auch nicht in der Dokumentation zur Amtshandlung. Weiter ging es um die Frage, warum Handfesseln angelegt wurden und ob dies nötig war, daraufhin entgegnete er allgemein, dass „so lange keine Handfesseln angelegt sind, ist die Gefahr noch groß, dass sie sich wehren“.
Im weiteren Verlauf des Beweisverfahrens wurde noch eine Polizistin geladen, die Auskunft über die Anordnung zur vollständigen Entkleidung geben sollte. Diese hatte jedoch nichts mit der Amtshandlung zu tun, ein weitere entschuldigte sich telefonisch für ihr nichterscheinen und meinte, sie könne sich nicht mehr erinnern. Auch wurde die Freundin auf dessen Schulter sich die Beschwerdeführerin zu Beginn befand, befragt. Eine Vorwarnung an ihre Freundin, dass sie gleich von der Polizei von der Motorhaube geholt wird, hatte sie nicht vernommen: „Sonst hätte ich sie auch gebeten runterzukommen, weil es gefährlich gewesen wäre.“ Eine weitere Beobachterin bestätigte diese Wahrnehmungen: “Für mich kam es sehr überraschend“, eine vorherige Ankündigung hat sie nicht gehört.
In seinen Schlussausführungen strich der Verteidiger der Beschwerdeführerin heraus, dass Polizist*innen vor der Ausübung von Zwangsgewalt, worunter sowohl das Herunterholen vo PKW wie auch die Festnahme fällt, diese angekündigt und angedroht werden müssen. Ansonsten sind sie rechtswidrig. „Generell ist meine Erfahrung dass es etwas untergeht bei dieser Art von Körperkraftanwendung“, fasst Clemens Lahner zusammen. Außerdem hätte man vor Ort zumindest abwägen müssen den Ausweis zu holen oder auf eine andere Art ihre Identität herausfinden können.
Die Richterin gab der Beschwerde vollinhaltlich statt und erklärte folgenden Einsatz von Zwangsgewalt der Polizist*innen für rechtswidrig:
Die Polizist*innen haben den Befehl erteilt ein bestimmtes Verhalten einzustellen, in diesem Fall das Herunterkommen von der Motorhaube. Erst wenn dieser Befehl missachtet wird, hätte zunächst die Ausübung von Zwangsgewalt angedroht und danach, mangels Erfolgs, angekündigt werden müssen. Dies ist nach den Aussagen der beiden einvernommenen Polizisten nicht geschehen, wäre aber im gegenständlichen Fall möglich gewesen, weshalb die Vorgaben für die Ausführung unmittelbarer Zwangsgewalt nach § 50 Abs 2 SPG nicht erfüllt wurden.
Außerdem wäre es den beteiligen Polizist*innen zumutbar gewesen, die geringe Wegstrecke zurück zu legen um den Ausweis der Beschwerdeführerin, der sich sich weit entfernt in ihrem Rucksack bei Freund*innen befand. Es wurde nicht einmal der Versuch unternommen, ihre Identität so festzustellen. Die dennoch vorgenommene Festnahme war daher rechtswidrig.
Da bereits die Festnahme rechtswidrig war, waren es auch allen folgenden Maßnahmen. Wenn die Festnahme rechtswidrig ist, kann die Art und Weise wie sie durchgesetzt wird, nie rechtskonform sein.