Beitrag wurde veröffentlicht in: juridikum 2/2015

1. prozess.report – was steckt dahinter?

Wir sind ein Kollektiv aus (Medien)Aktivist*innen und Journalist*innen, die in Zusammenarbeit mit vielen Freiwilligen seit Juni 2014 ausgewählte Prozesse begleiten und von diesen live berichten. Unser Team ist, wenn möglich, an jedem Verhandlungstag vor Ort, protokolliert umfassend was Zeug*innen und andere Prozessbeteiligte aussagen und fasst dies in Ticker-Einträge zusammen, die dann live auf unserem Blog und via Twitter und Facebook mitverfolgt werden können. Unser Ziel ist es, Betroffenen von Repression eine Stimme zu geben und Öffentlichkeit herzustellen, wo sie fehlt.
Beim sogenannten „Fluchthilfeprozess“ (siehe auch Wiener Zeitung), in dem acht Refugees der Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung angeklagt waren, hielt die Medienaufmerksamkeit nicht lange, und das öffentliche Interesse war schnell ver ogen. Gleichzeitig erfolgte eine Denunzierung der Beschuldigten durch eine breite Öffentlichkeit, mitausgelöst von vielen unkritischen Medienberichten. Wir sind geblieben, auch aus Solidarität zu den Angeklagten und um darauf aufmerksam zu machen, was dort während der 43 Verhandlungstage passierte. Daraus entstand das Projekt prozess.report.

2. Eine Positionsfrage

Wie aus der Geschichte des Projekts unmissverständlich herauszulesen ist, halten wir einen sogenannten „objektiven“ Standpunkt während der Prozessbeobachtung (auch im Journalismus im Allgemeinen) für unmöglich. Was uns jedoch wichtig ist, ist der Anspruch auf Vollständigkeit der Berichterstattung hinsichtlich aller Geschehnisse im Gerichtssaal während des ganzen Verfahrens. Dieser unterscheidet die Plattform prozess. report von anderen Medien. Es ist nicht unsere Ambition, nur für Plädoyers, Urteile und Kronzeug*innen anwesend zu sein, sondern anhand von ständiger Betrachtung des Alltags im Gerichtssaal Strukturen offenzulegen und kritisch zu hinterfragen; sichtbar zu machen, was für viele hinter den dicken Mauern und Sicherheitschecks unsichtbar bleibt.
Bezeichnend für die Ungewöhnlichkeit dieser Art der Prozessbeobachtung ist nicht zuletzt die Rolle der Schlussplädoyers. Obwohl sie zum gerichtlichen Alltag gehören, mutiert ihre Funktion in Prozessen mit breiter Medienaufmerksamkeit zu einer Zufriedenstellung ebenjener, während der/die Richter*in mitunter den Eindruck erweckt schon lange vorher ein Urteil gefällt zu haben. Die Zusammenfassungen der im Prozess verhandelten Materie von Seiten der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft, auf die sich ein/e Richter*in auch im Normalbetrieb nicht verlassen darf, da sie stark subjektiv sind, werden somit zum Spektakel. Während sich die bezahlten Prozessgeher*innen darin üben, pointierte Zitate zu liefern und schöne Vergleiche anzustellen, geraten die Angeklagten (im Falle eines zivilrechtlichen Prozesses auch die Kläger*innen und Beklagten) ins Hintertreffen. Dieses Bild, das die Betroffenen deindividualisiert, indem es sie zu Objekten der Diskussion werden lässt, wird aufgegriffen und in Zeitungen, im Fernsehen weiterverarbeitet.
Um diese wieder mehr in den Fokus zu rücken, ist uns ein ständiger Austausch mit den Protagonist*innen ein wichtiges Anliegen, um sicherzustellen, dass wir in keinem Fall über die Köpfe der von Repression betroffenen Personen hinweg berichten, wo sie doch in ihrer Position bereits dazu gezwungen wurden einen großen Teil ihrer Selbstbestimmung aufzugeben. Das kann die Nennung von Namen, aber auch heikle Inhalte der Gerichtsverhandlung betreffen, deren Veröffentlichung unbeabsichtigte Folgen mit sich ziehen könnte.
Doch auch wir bleiben bei dem Versuch, blinde Flecken in Gerichtsverfahren darzustellen, in einer privilegierten Position, auch wenn es uns ein Anliegen ist, diese zu re ektieren und zu hinterfragen. Als Prozessbeobachter*innen ist uns direkte Solidaritätsarbeit mit Betroffenen nicht inhärent, auch wenn diese eine unmittelbarere Unterstützung liefern könnte, als es unser Versuch einer Verschiebung im öffentlichen Diskurs leisten kann. Dieser hat als Gegengewicht zu einer oftmals sehr einseitigen Berichterstattung jedoch mit der Kritik am Wesen des Gerichts ein ähnliches Ziel.
Die Idee ist daher, ein Nebeneinander des Handelns aufzubauen; prozess.report ist dabei eine von vielen Aktionsformen im Kampf gegen systemische Diskriminierung und Repression. Wir wollen die theoretische Öffentlichkeit der gerichtlichen Prozesse in die Praxis umsetzen, um so einer größeren Zahl von interessierten Personen Kritik zu ermöglichen. Während einzelne Verfahren in anderen Medien schon durch die erlebnisorientierte Art der Berichterstattung als unzusammenhängende Einzelfälle dargestellt werden, wollen wir die Prozesse zusammenhängend beobachten, um Probleme im System zu identizieren.

3. Von welchen Problemen reden wir?

Innerhalb der letzten Monate haben wir über viele verschiedene Prozesse berichtet. Neben Verfahren gegen marginalisierte Bevölkerungsgruppen und politischen Protest erreichten uns dabei auch zivilrechtliche Prozesse mit gesellschaftlicher Relevanz. Oft sind das Verhandlungen, auf die wir selbst durch unser Umfeld aufmerksam werden, aber zunehmend werden wir auch von Dritten kontaktiert und um Berichterstattung gebeten. Kritisch zu hinterfragen gilt es dabei vor allem, welche Auswirkungen diese Prozesse, die aus unserer Sicht Repressionsmaßnahmen darstellen, haben. Denn ein Prozess kann für Angeklagte höchst problematische Folgen haben: ihr Aufenthalt in diesem Land wird gefährdet, die Prozesskosten können sie in prekäre Lebensrealitäten drängen oder ihre Situation nanziell und sozial verschlechtern.
Nach einer Vielzahl von Prozessbeobachtungen stellen wir fest: Das Vertrauen in Gerechtigkeit und unser Justizsystem scheint für einen Großteil der Bevölkerung unerschütterlich. Kritik an der „weißen Deutungshoheit“ der Machtausübenden fehlt. Viel mehr noch, institutioneller Rassismus innerhalb der Polizei, der Staatsanwaltschaften und der Gerichte wird tabuisiert, denn solche Ungerechtigkeiten dürfen einfach nicht passieren.
Was also nicht sein darf, existiert auch nicht? Genau diese Denkweise verhindert die dringend nötige Debatte über institutionellen und strukturellen Rassismus im Justizwesen und sorgt weiter dafür, dass gesellschaftliche rassistische Verhältnisse zugunsten von Privilegierten bestehen bleiben.
Wie allgegenwärtig Rassismen im Gerichtssaal zu Tage treten, wurde vor allem beim Fluchthilfeprozess und in der Verhandlung gegen den Antifaschisten Hüseyin S. (siehe auf derStandard) deutlich. Von fehlerhaften Übersetzungen der Aussagen der Beschuldigten selbst, über mangelndes Interesse der Vorsitzenden an Rückübersetzungen, bis hin zu von rassistischen Vorannahmen geprägten Fragestellungen der Prozessbeteiligten („Waren Sie so angezogen wie Sie jetzt sind, oder hat man erkannt, dass Sie Pakistani sind?“, fragte ein Schöffe im Fluchthilfeprozess), zeigte sich immer wieder, wie ungleich der Rechtsstaat hier agiert. Sobald kein weißer Antifaschist angeklagt war, verringerte sich sowohl das öffentliche Interesse, als auch die Solidarität von Aktivist*innen. So war der Saal, in dem Josef S. sich u.a. wegen Landfriedensbruch verantworten musste, zu klein für den Ansturm an interessierten Prozessbeobachter*innen; Monate später bei angeklagten Fans des Fußballklubs „Rapid Wien“, die mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert waren, jedoch fast leer. Die punktuelle Anwesenheit von Journalist*innen, die nur dann vor Ort sind, wenn Prozessinhalte medial verwertbar sein könnten, sorgt dafür, dass das Aufzeigen von Zusammenhängen, zum Beispiel beim Einsatz von sogenannten Organisationsdelikten wie § 278 StGB, leider zu wenig in den öffentlichen Diskurs gerückt wird und kritische Stimmen und marginalisierte Gruppen weiter kriminalisiert werden.

4. Die Zukunft des Projekts

Prozessberichterstattung ist und bleibt notwendig, denn Verfahren wie die des Fluchthilfeprozesses oder jenes gegen Josef S. sollten nicht als Einzelfälle gewertet werden, sondern einen Anstoß bieten, die Gerechtigkeit unserer Justiz ganz grundsätzlich zu hinterfragen. Rassismus, Repression und Diskriminierung sind systematisch bedingt, enorm belastend und enden nicht vor den Toren des Gerichts.
Prozess.report soll dabei auch in Zukunft eine barrierefreie, kritische, möglichst lückenlose Form der Beobachtung bleiben und als solche für alle zugänglich sein, die das Projekt gerne nutzen möchten um das, was tagtäglich in kleinen und großen Verhandlungssälen geschieht und zumeist unbeachtet bleibt, sichtbar zu machen. Anfragen und Unterstützung sind und bleiben daher stets herzlich willkommen.